Gender Bias in der deutschen Wikipedia

Disclaimer: Dieses Projekt verwendet die binären Geschlechterkategorien „Frau” und „Mann”, wie sie im Rahmen der Wikipedia benutzt werden. Wikipedia bestimmt die Zugehörigkeit zu diesen Kategorien über eine Selbstzuordnung (im Falle von Autor*innen) oder eine Fremdzuordnung (im Falle von Biographien). Stereotypische Aussagen finden sich in „Anführungszeichen”. Die Pauschalisierung von Geschlechtsmerkmalen ist für dieses Projekt notwendig, da es um die Analyse eben dieser Dimensionen geht. Wir möchten darauf hinweisen, dass in einem anderen Kontext die Kategorisierung von Geschlecht grundsätzlich hinterfragt werden sollte.

Wikipedia weiß alles. Alles?

Habt ihr schonmal nach der aktuellen Vizepräsidentin der TU Berlin Christine Ahrend gesucht? Nach der Frauenrechtlerin Raden Ayu Kartini? Oder der ersten Frau im All?

Habt ihr sie gefunden? Wie informativ waren die Artikel?

Kennt ihr stattdessen die herausragenden Leistungen des Erfinders Paul Arendt? Oder sucht doch einmal nach dem Sportverein, in dem ihr als Kind gespielt habt. Findet ihr die erste Pornodarstellerin, die euch einfällt? Oder vergleicht doch mal die Kategorien E-Sport Clan und Frauenfußballverein.

Wie fällt der Vergleich aus?

Wikipedia Grundprinzipien

Die Wikipedia ist das größte Online-Lexikon der Welt. Ihr Anspruch ist es, neutrales, relevantes, und freies Wissen zu verbreiten[1].

Wissen ist nicht neutral!

Aber Wissen ist nicht neutral. Was wir wissen, und noch viel mehr, was wir nicht wissen, wird von dem gesellschaftlichen Kontext bestimmt, in dem wir uns befinden. Deshalb ist es essentiell, sich damit auseinanderzusetzen, wie und von wem Wissen produziert und verbreitet wird.

Wikipedia übernimmt als eine der größten Wissensplatformen eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Und doch zeigt sich, dass das Wissen in der Wikipedia verzerrt ist. Eine dieser Verzerrungen ist der enorme Gender Bias der Wikipedia-Inhalte. Die Artikel in der Wikipedia wurden tendenziell von Männern über Männer zu „Themen, die Männer interessieren” geschrieben.

Biographien in der Wikipedia

Biographien in der Wikipedia eignen sich besonders gut zur Verdeutlichung. Zum jetzigen Stand (16.09.2021) enthält die deutschsprachige Wikipedia 828.180 Seiten von natürlichen Personenseiten in 153.049 Kategorien. Zusätzlich sind Personen in eine von vier Geschlechterkategorien eingeteilt: „Frau”, „Mann”, „nicht binäre Person” oder „Geschlecht unbekannt”. Wir haben eine Baumübersicht über alle diese Kategorien erstellt und farblich hervorgehoben, wie hoch der Anteil der Seiten ist, die nicht zur Kategorie „Mann” gehören.

0% 20% 40% 60% 80% 100% Anteil nicht männlicher Personen
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Über diese Daten Quelle: Datenwerkzeug der Wikimedia Foundation: Quarry. Abgerufen am: 08.09.2021
Dargestellt werden alle Unterkategorien der Kategorie Person, jeweils mit der Gesamtzahl aller ihrer Unterseiten in allen Unterkategorien. Personen sind in der Regel mehreren Kategorien zugeordnet und auch Kategorien können in der Hierarchie mehrfach auftauchen. Daher werden individuelle Seiten mehrfach gezählt und die Gesamtzahl der Seiten ist um ein vielfaches höher als die Gesamtzahl der Personenseiten. (Unter-)Kategorien mit weniger als 100 Seiten werden nicht dargestellt, um die Darstellung zu verbessern. Sie werden aber in der Zahl der Seiten für Oberkategorien mitgerechnet.

Klickt man auf die Kategorie Personen nach Geschlecht, kann man sich die Verteilung auf die Geschlechterkategorien in der Wikipedia direkt ansehen. Personen mit unbekanntem Geschlecht sind nahezu unsichtbar am unteren rechten Rand und nicht-binäre Personen sind in unserer Darstellung ausgefiltert, da es hier weniger als 100 Biografien gibt(!). Hier und da gibt es aber gelbe oder sogar grüne Flecken zu entdecken. Welche findet ihr?

Was denkst du: Wie viel Prozent der Menschen, die im 20. Jahrhundert geboren wurden, sind Frauen? Knapp 50 Prozent? Fast richtig.

Und wie hoch ist der Frauenanteil bei Wikipedia-Artikeln zu Personen, die im 20. Jahrhundert geboren wurden? Auch 50 Prozent? Weit daneben, lediglich 21 Prozent der Artikel in dieser Kategorie beziehen sich auf Frauen.

Und wie hoch ist der Frauenanteil in der Kategorie Fußball? Ebenfalls 20 Prozent. Wieder weit daneben. Nur 4 Prozent befassen sich mit Fußballerinnen. Und wie sieht es bei klassischen „Frauenfächern” wie Psychologie aus? Du wirst feststellen, dass auch in der Rubrik „Psychologie” der Frauenanteil nur 23 Prozent beträgt. Und das, obwohl mittlerweile der Frauenanteil bei den abgeschlossenen Diplomprüfungen im Fach Psychologie in Deutschland bei 75%[3] liegt. Das ist ein Hinweis darauf, dass der Gender Bias in Wikipedia nicht nur die generelle Unterrepräsentation von Frauen in relevanten Positionen spiegelt, sondern diese noch verschärft. Findet ihr noch mehr Beispiele dafür?

Wenn man in der Personenkategorie immer auf die „grünste” Kachel klickt, landet man bei Ehepartner eines Staatsoberhauptes oder Regierungschefs. In der Kategorie Person nach Tätigkeit landet man sehr schnell bei Model. Bei der Person nach Sachgebiet ist es Person (Feminismus). In der Kategorie Person nach Zeit findet man sehr versteckt die Person (Pflege) nach Zeit mit einem Männeranteil von 10%.

Zusätzlich fällt auf, dass alle Kategorien grundsätzlich im generischen Maskulinum formuliert sind. Christlicher Geistlicher genauso wie Frauenrechtler. Dies ist auf eine Entscheidung der deutschen Wikipedia zurückzuführen, dass generell das generische Maskulinum verwendet wird und genderneutrale Formulierungen nicht verwendet werden dürfen. Entsprechende Änderungen werden in kürzester Zeit wieder rückgängig gemacht[4].

Genderungleichheit in der Community

Woher kommt der Gender Bias der Wikipedia?

Wikipedia wurde 2001 von Jimmy Wale und Larry Sanger gegründet und basiert auf der Expertise und den Ressourcen von Bomis.com - einer Pornographieseite. Unter dem Motto „anyone can edit„ kann jede Personen mit Internetzugang und ausreichend technischem Verständnis Artikel verfassen und bearbeiten, das Wissen wird auch innerhalb der Community verifiziert. Alle Autor*innen in der Wikipedia arbeiten ehrenamtlich und selbstorganisiert. Berechtigte Autor*innen bestimmen in Wahlen die Organisationsstruktur der Wikipedia. So werden Rollen wie beispielsweise „der Admin” verteilt, der erweiterte Bearbeitungsbefugnisse hat. Die Wikipedia Community ist also als freier und offener Raum gedacht. Das Problem an freien und offenen Räumen ist, dass diese nie lange frei und offen bleiben und Schutz von Minderheiten nicht sichergestellt wird (siehe auch: The Tyranny of Stuctureless). Im Fall von Wikipedia enstand eine Community, deren Hierarchie sich über die letzten 20 Jahre entwickelt und gefestigt hat. Achso ja und… 90 Prozent der Community definieren sich als männlich[5].

Schon seit ihrer Entstehung haben Cyberfeministinnen auf Exklusionsmechanismen innerhalb der Wikipedia-Community hingewiesen, die marginalisierte Gruppen und Frauen von dem Prozess der Wissensproduktion ausschließen. Auf der einen Seite sind Ressourcen (Zugang zu Hardware und technischem Know-How und in diesem Fall essentiell: Zeit Artikel zu schreiben, sich in der Community zu beweisen oder gar eine Administrative Rolle einzunehmen) in unserer Gesellschaft grundsätzlich ungleich verteilt. Auf der anderen Seite sorgt eine diskriminierende Infrastruktur der Wikipedia dafür, dass neugewonnene Autorinnen nicht lange bleiben. Die beschrieben Problematiken reichen von persönlichen Anfeindungen, und dem generellen Umgangston innerhalb der Community[6] bis hin zu strukturellen Thematiken wie die Auslegung der Relevanzkriterien für Artikel. Männer schreiben häufiger über Männer und Themen, die sie für relevant halten. Durch die internen Strukturen in der Wikipedia bestätigen sie sich gegenseitig in ihrer Auffassung, was relevantes Wissen und was irrelevantes Wissen sei. Minderheitenthemen werden dadurch häufiger aufgrund scheinbar fehlender Relevanz aus der Wikipedia ausgeschlossen. Einen Eindruck von der Stimmung innerhalb der Community bezüglich Genderthemen gewinnt man, wenn man sich durch die Diskussionseite der sogenannten Meinungsbilder zum Thema generisches Maskulinum klickt.

Der folgende Netzwerkgraph zeigt den Teil der Wikipedia Community, die sich einer Geschlechtskategorie zugeordnet haben.

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Über diese Daten Quelle: Datenbank Dump des Projektes „Persönliche Bekanntschaften”. Abgerufen am: 07.07.2021
Autor*innen der Wikipedia können sich innerhalb des „Projektes: Persönliche Bekanntschaften” gegenseitig als reale Personen verifizieren indem sie angeben, dass sie sich persönlich kennen.
Ausgewertet wurden bestätigte Verifizierungen von Personen mit Geschlechtsangabe. Die Anzahl der Verifizierungen wird durch die Größe des Knotens dargestellt. Personen mit Verifizierungen sind tendenziell dichter beieinander angeordnet. Weiblichen* Autor*innen wird empfohlen keine Geschlechtsangabe zu machen, um nicht Opfer von Anfeindungen zu werden. Auf der anderen Seite machen männliche Autoren oft keine Geschlechtsangabe, da Autor*innen durch das generische Maskulinum per se als Mann angesprochen werden, und somit der Anreiz einer Geschlechtsangabe für Männer minimiert wird. Außerdem ist es natürlich möglich ein beliebiges Geschlecht anzugeben. Wir vermuten, dass die tatsächliche Geschlechtsverteilung der Community einen noch höheren Männeranteil beinhaltet. Um einzelne Accounts vor Übergriffen zu schützen, haben wir die personalisierten Account-Daten anonymisiert.

Jetzt kannst du dir anschauen, wie die Geschlechterverteilung innerhalb dieses Netzwerkes aussieht, indem du die verschiedenen Optionen anklickst. Was fällt dir auf? Wer ist besonders gut vernetzt? Wenn du dir die Accounts anzeigen lässt, die über eine Adminrolle verfügen, was siehst du dann?

Hast du dich gefragt wer die Accounts sind, die sich etwas abseits von der zentralen Gruppe sammeln? Wir uns auch! So haben wir nicht nur das feministische/Frauen Netzwerk, sondern auch die holländische und französische Community und ein Schulprojekt entdeckt.

Wie wirkt sich die Genderverteilung in der Community auf den Gender Bias der Wikipedia aus?

Es stellt sich nun die Frage, ob der Gender Bias des Wikipedia Inhalte und die Genderverteilung innerhalb der Autor*innenschaft in einem direkten Zusammenhang stehen. Was glaubst du?

Mit den hier gezeigten Graphen lässt sich so ein Zusammenhang nicht direkt zeigen, gibt aber einen ersten Hinweis in diese Richtung. Der Graph setzt die Biographien und das angegebene Geschlecht in einen Zusammenhang, indem er die jeweilige Edits visualisiert.

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Über diese Daten Quelle: Datenwerkzeug der Wikimedia Foundation: Quarry. Abgerufen am: 08.09.2021
Es werden alle Bearbeitungen an Biografien von Autoren mit Geschlechtsangabe dargestellt.

Was ist die gesellschaftliche Konsequenz?

Wikipedia produziert keineswegs objektives Wissen, vielmehr reproduziert es Ungleichheitsstrukturen und verstärkt sie sogar durch hierarchische und patriarchische Strukturen.

Versuche der Wikimedia Foundation, die Wikipedia diverser zu gestalten, haben bisher wenig gefruchtet. Auch Förderprojekte top-down, wurden bisher negativ bewertet, da eine Bezahlung von Autor*innen für das Schreiben von Artikeln gegen die Grundsätze der Wikipedia verstößt[7].

Aber es passiert trotzdem viel: Innerhalb der Wikipedia Community haben sich Support Strukturen für Autorinnen gebildet, sowie das Projekt „Frauen in Rot”[8] welches fehlende Frauenbiographien und Themen sammelt und dazu arbeitet. Auch außerhalb der Wikipedia sind feministische Schreibwerkstätten (z.B texture) entstanden, die zum gemeinsamen Artikelschreiben aufrufen und Workshops anbieten, um werdende Autor*innen auf die Schwierigkeiten in der Wikipedia Community bestmöglich vorzubereiten. Die regelmäßigen Edit-a-thons zeigen Wirkung. Mehr und mehr Themen finden sich in der Wikipedia.

Aus unserem Projekt hat sich die Erkenntnis ziehen lassen, dass ein „Gegenschreiben” nicht nachhaltig genug ist, solange nichts gegen strukturelle Diskriminierung und Anfeindungen in der Wikipedia Community getan wird. Das Konzept „anyone can edit” geht in einer ungleichen Gesellschaft nicht auf. Offene Räume - und das gilt auch für online Räume - brauchen Regeln, die sicherstellen, dass Minderheiten und vulnerable Gruppen sich genauso frei bewegen können wie andere. Für ein Lexikon, das den Anspruch erhebt das Wissen der Gesellschaft zu sammeln und zu verbreiten, gilt das allemal. Die Wikipedia braucht einen Strukturwandel. Hierbei geht es um die Kommunikationskultur, die Rolle der Moderatoren, das Anonymitätsprinzip, die Benutzeroberfläche, das generische Maskulinum, die Organisation von Hierarchien und Wahlen, Transparenz von informalen Strukturen und Netzwerken, die Relevanzkriterien... Es ist viel zu tun! Dass die Community erfolgreich diesen Schritt allein über Bottom-Up geht, ist zu bezweifeln. Diejenigen, die sich über 20 Jahre ihre Machtpositionen verschafft haben, sind logischerweise schwer zu überzeugen. Aus Sorge die Autor*innen zu verärgern, die die Wikipedia durch ihre ehrenamtliche Arbeit möglich gemacht haben, halten auch die externen Strukturen still. Das muss sich ändern. Also gilt: Gesellschaftlichen Druck für mehr Gendergerechtigkeit erhöhen - gerade im Onlineraum!